Gesundheitssystem am Limit: Wenn Kranksein zum finanziellen Risiko wird
Die Beitragsentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hat sich zu einem sozialpolitischen Brennpunkt entwickelt. Was auf den ersten Blick wie eine technische Anpassung erscheint, offenbart bei genauerem Hinsehen eine systemische Krise: Die finanzielle Belastung der Versicherten steigt kontinuierlich, während gleichzeitig die Sorge wächst, sich im Krankheitsfall notwendige Behandlungen nicht mehr leisten zu können.
Die Faktenlage: Explodierende Kosten im Gesundheitssystem
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Die GKV-Ausgaben erreichten 2023 einen Rekordwert von über 280 Milliarden Euro, und der Trend setzt sich fort. Für 2025 prognostizieren mehrere Krankenkassen weitere deutliche Beitragssteigerungen.
Der durchschnittliche Zusatzbeitrag in der GKV ist von 1,3 Prozent im Jahr 2019 auf voraussichtlich 2,5 Prozent im Jahr 2025 gestiegen. Diese Entwicklung trifft insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit mittleren und kleinen Einkommen überproportional hart. Während Besserverdienende durch die Beitragsbemessungsgrenze relativ entlastet werden, müssen Menschen mit geringerem Einkommen einen immer größeren Teil ihres verfügbaren Einkommens für Krankenversicherungsbeiträge aufwenden.
Der "Beitrags-Tsunami": Warnsignale aus dem System
Führende Krankenkassen wie die AOK und die Techniker Krankenkasse warnen bereits seit 2024 vor einem "Beitrags-Tsunami" und fordern strukturelle Reformen. Die Gründe für die Kostensteigerungen sind vielschichtig: demografischer Wandel, medizinisch-technischer Fortschritt, steigende Arzneimittelpreise und strukturelle Ineffizienzen im System.
Besonders problematisch: Die paritätische Finanzierung – also die hälftige Beteiligung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern an den Beiträgen – gilt nur für den allgemeinen Beitragssatz. Der Zusatzbeitrag muss seit 2019 wieder paritätisch getragen werden, doch die steigenden Gesamtkosten belasten dennoch überproportional die Versicherten.
Verfassungswidriger Skandal: Wie der Bund die Krankenkassen systematisch unterfinanziert
Ein besonders brisanter Aspekt der Beitragskrise wird in der öffentlichen Debatte kaum thematisiert: Die gesetzlichen Krankenkassen, vertreten durch den GKV-Spitzenverband, haben Klage gegen die Bundesregierung eingereicht – und das aus gutem Grund. Seit mehr als 15 Jahren finanziert der Bund die Krankenversicherung von Bürgergeld-Empfängern nicht vollständig, obwohl er gesetzlich dazu verpflichtet ist. Das Defizit: jährlich rund 6 bis 10 Milliarden Euro.
Die Zahlen sind erschreckend konkret. Der Bund zahlt für die etwa 5,5 Millionen Bürgergeld-Empfänger lediglich eine monatliche Pauschale, die 2022 bei 108,48 Euro pro Person lag – das deckt nur etwa ein Drittel der tatsächlichen Kosten. Die Differenz müssen die rund 75 Millionen gesetzlich Versicherten und ihre Arbeitgeber über höhere Beiträge ausgleichen. Dies ist nicht nur ungerecht, sondern nach Ansicht der Krankenkassen auch verfassungswidrig.
Die Klage stützt sich auf fundamentale verfassungsrechtliche Prinzipien: Artikel 87 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 74 Absatz 1 Nummer 12 des Grundgesetzes schützt die organisatorische und finanzielle Selbstständigkeit der Sozialversicherungsträger. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem klar festgestellt, dass Sozialversicherungsbeiträge streng zweckgebunden sind und nicht für gesamtgesellschaftliche Aufgaben missbraucht werden dürfen. Die gesundheitliche Versorgung von Bürgergeld-Empfängern ist eine staatliche Aufgabe – keine Aufgabe der Beitragszahler.
Politische Ignoranz mit System
Besonders brisant: In der ZDF-Sendung "Maybrit Illner" wurde kürzlich über diese Klage diskutiert. Die Reaktion von Gesundheitsminister Jens Spahn offenbart die ganze Tragweite des Problems. Seine Antwort auf die Frage nach der Erstattung der verfassungswidrig nicht gezahlten Milliarden: Man müsse abwarten, man habe halt kein Geld, um das aus dem Haushalt zu bezahlen, und werde diese Zahlungen wohl auch in Zukunft nicht leisten können.
Diese Aussage ist an Zynismus kaum zu überbieten. Während der Bund vorgibt, 6 bis 10 Milliarden Euro für die verfassungsmäßige Finanzierung der Krankenversicherung nicht aufbringen zu können, werden gleichzeitig jährlich 9 Milliarden Euro an die Ukraine zugesagt – ganz abgesehen von den massiven Erhöhungen im Rüstungsetat. Es ist eine Frage der politischen Prioritäten, nicht der finanziellen Möglichkeiten.
Die Konsequenzen dieser Haushaltspolitik tragen die Beitragszahler: Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden durch ständig steigende Krankenkassenbeiträge belastet, obwohl der Staat seiner Zahlungspflicht nicht nachkommt. Die Krankenkassen werden gezwungen, ihre Beitragseinnahmen verfassungswidrig zu verwenden, während die Reserven der Kassen und der Gesundheitsfonds erschöpft werden. Das System wird systematisch ausgehöhlt – auf Kosten derjenigen, die ohnehin schon am meisten zahlen.
Die Klage vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zielt darauf ab, diese Praxis zu beenden und eine faire Finanzierung herzustellen. Für 2026 fordern die Krankenkassen die vollständige Erstattung von rund 10 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt. Ob die Bundesregierung dieser verfassungsrechtlichen Verpflichtung nachkommen wird, bleibt abzuwarten – bislang gibt es keine substanzielle Reaktion, nur leere Ausflüchte.
Krankenhäuser unter Druck: Strukturelle Schwächen gefährden die Versorgung
Zu den finanziellen Belastungen kommt eine besorgniserregende strukturelle Schwäche des deutschen Krankenhaussystems hinzu. Eine aktuelle Studie des Institute for Health Care Business (hcb) und des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) zeigt: Im Krisen- oder Kriegsfall wären die deutschen Krankenhäuser nur eingeschränkt krisen- und verteidigungsfähig.
Die Untersuchung identifiziert erhebliche Schwächen in fünf zentralen Bereichen: Personal, Cybersicherheit, physische Sicherheit, Versorgung und Vorbereitung auf chemische, biologische, radiologische und nukleare Lagen. Besonders dramatisch: Der bereits im Normalbetrieb bestehende Personalmangel würde eine wirksame Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzungen erheblich erschweren. Die große Mehrheit der Kliniken (81 Prozent) bildet ihr Personal nicht gezielt für Katastrophenszenarien weiter.
Diese strukturellen Defizite offenbaren ein grundsätzliches Problem: Das deutsche Gesundheitssystem ist nicht nur finanziell unter Druck, sondern auch operativ unzureichend aufgestellt. Während Versicherte immer höhere Beiträge zahlen, sinkt gleichzeitig die Krisenfestigkeit des Systems. Die Studie beziffert den Investitionsbedarf allein für das Szenario "Cyberangriffe und Sabotageakte" auf etwa 2,7 Milliarden Euro plus 670 Millionen Euro Betriebskosten. Im Verteidigungsfall würden sogar 14 bis 15 Milliarden Euro an Investitionskosten benötigt.
Der Vorstandsvorsitzende der DKG, Gerald Gaß, kritisiert zudem, dass das Thema Krisenresilienz in der aktuellen Krankenhausreform überhaupt keine Rolle spiele – obwohl gerade jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, diese Aspekte in bauliche Veränderungen und Neubauten zu integrieren.
Die soziale Dimension: Gesundheit als Klassenfrage
Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind weitreichend. Studien zeigen, dass finanzielle Belastungen im Gesundheitswesen soziale Ungleichheiten verstärken. Laut einer Erhebung der Bertelsmann-Stiftung verzichten bereits heute rund 6 Prozent der gesetzlich Versicherten aus Kostengründen auf notwendige medizinische Behandlungen. Bei Menschen mit niedrigem Einkommen liegt dieser Anteil deutlich höher.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Universal Health Coverage als ein Zustand, in dem alle Menschen Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsleistungen haben, ohne dabei in finanzielle Not zu geraten. Deutschland bewegt sich mit der aktuellen Entwicklung von diesem Ideal weg, nicht darauf zu.
Reformbedarf: Solidarität statt Spaltung
Gesundheitsökonomen fordern seit Jahren eine grundlegende Reform der Finanzierungsstruktur, einschließlich der Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze und einer stärkeren Einbeziehung von Kapital- und Vermögenseinkommen in die Finanzierung. Solche Maßnahmen würden nicht nur die finanzielle Last gerechter verteilen, sondern auch die Einnahmebasis der Krankenversicherung verbreitern und stabilisieren.
International zeigen Länder wie die Niederlande oder die Schweiz, dass alternative Finanzierungsmodelle mit starken Solidarelementen und staatlichen Zuschüssen für untere Einkommensgruppen funktionieren können. Deutschland muss die Debatte über eine nachhaltige und gerechte Gesundheitsfinanzierung endlich ernsthaft führen.
Konkrete Maßnahmen für ein gerechtes Gesundheitssystem
Um das Gesundheitssystem nachhaltig zu stabilisieren und gerecht zu finanzieren, sind folgende konkrete Maßnahmen erforderlich:
Kurzfristige Maßnahmen (1-2 Jahre):
- Sofortige vollständige Erstattung der Kosten für Bürgergeld-Empfänger aus dem Bundeshaushalt: Die seit 15 Jahren angehäuften Schulden von 6 bis 10 Milliarden Euro jährlich müssen umgehend beglichen werden, um die verfassungswidrige Praxis zu beenden
- Sofortige Beitragsentlastung für untere Einkommensgruppen durch staatliche Zuschüsse aus Steuermitteln für Versicherte mit einem Einkommen unter 2.500 Euro brutto monatlich
- Reduzierung der Bürokratie in Krankenhäusern und Arztpraxen, um Personal zu entlasten und Kosten zu senken – Gaß erinnert daran, dass allein durch weniger Dokumentation mehr Personal zur Verfügung stehen könnte
- Einführung einer Mindestbeteiligung für Kapital- und Vermögenseinkommen an der Krankenversicherungsfinanzierung von mindestens 5 Prozent
- Deckelung des Eigenanteils bei medizinischen Behandlungen auf maximal 2 Prozent des Jahresnettoeinkommens
Mittelfristige Maßnahmen (3-5 Jahre):
- Gesetzliche Verankerung der vollständigen Kostenerstattung für alle staatlichen Aufgaben, die den Krankenkassen übertragen werden, mit automatischer Anpassung an die realen Kosten
- Schrittweise Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze oder vollständige Abschaffung, um Höherverdienende stärker in die Solidargemeinschaft einzubeziehen
- Einführung einer steuerfinanzierten Bürgerversicherung, in die alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrem Erwerbsstatus einzahlen
- Investitionsprogramm für Krankenhäuser aus dem Sondervermögen Verteidigung: Finanzierung von IT- und Kommunikationssicherheit (2,7 Milliarden Euro), Personalfortbildung für Krisenszenarien und Ausbau von Lagerkapazitäten
- Ausbildungsoffensive im Gesundheitswesen mit besserer Bezahlung und Arbeitsbedingungen, um dem Personalmangel entgegenzuwirken
- Einführung eines Baubeschleunigungsgesetzes für Kliniken nach dem Vorbild des LNG-Beschleunigungsgesetzes, um bürokratische Hürden zu überwinden
Langfristige Maßnahmen (5-10 Jahre):
- Strukturreform der Krankenhauslandschaft mit Integration von Krisenresilienz-Aspekten: Alle Neubauten müssen unterirdische Schutzräume, erweiterte Lagerkapazitäten und dezentrale Energieversorgung (Photovoltaik, Notstromaggregate) enthalten
- Neuordnung der Arzneimittelpreisgestaltung durch direkte Preisverhandlungen mit Pharmaunternehmen auf europäischer Ebene
- Digitalisierung des Gesundheitswesens mit Fokus auf Cybersicherheit und Ausfallsicherheit – 98 Prozent der Kliniken haben Notstromaggregate, aber nur 82 Prozent fühlen sich gegen Cyberangriffe gewappnet
- Präventionsstrategie zur Reduzierung vermeidbarer Erkrankungen durch staatlich geförderte Gesundheitsprogramme
- Transparenzoffensive bei Gesundheitsausgaben: Öffentliche Rechenschaftspflicht über die Verwendung von Beitragsgeldern und staatlichen Zuschüssen
Politische Verantwortung: Die Gerechtigkeitspartei fordert Umdenken
Die Gerechtigkeitspartei – Team Todenhöfer greift diese sozialpolitische Brisanz auf und macht sie zum zentralen Thema ihrer politischen Arbeit. Die Partei fordert eine grundlegende Reform der Krankenversicherungsfinanzierung, die auf echter Solidarität basiert: eine paritätische Finanzierung ohne Schlupflöcher, die sofortige Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen sowie strukturelle Veränderungen, die Gesundheit als Menschenrecht und nicht als Privileg begreifen. Besonders scharf kritisiert die Gerechtigkeitspartei die verfassungswidrige Unterfinanzierung durch den Bund und fordert die sofortige vollständige Erstattung der Kosten für Bürgergeld-Empfänger. Es ist inakzeptabel, dass der Staat Milliarden für Rüstung und Auslandshilfe aufbringt, aber seine verfassungsmäßige Verpflichtung zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung ignoriert – auf Kosten der Beitragszahler. In einer Zeit, in der das Vertrauen in die soziale Absicherung schwindet, setzt die Gerechtigkeitspartei ein klares Signal: Gesundheitsversorgung muss für alle Menschen zugänglich und bezahlbar bleiben – unabhängig vom Einkommen.
Quellen:
- Bundesministerium für Gesundheit: Finanzergebnisse der GKV (2024)
- Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Spitzenverband): Jahresberichte und Klageschrift gegen den Bund
- Bertelsmann-Stiftung: Studie zur Gesundheitsversorgung und sozialer Ungleichheit (2023)
- Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Gutachten 2023
- WHO: Universal Health Coverage Framework
- Institute for Health Care Business (hcb) und Deutsches Krankenhausinstitut (DKI): Studie zur Krisen- und Verteidigungsfähigkeit deutscher Krankenhäuser (2024)
- Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG): Stellungnahmen und Pressemitteilungen
- Grundgesetz (GG): Art. 87 Abs. 2 i.V.m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12
- Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und Fünftes Buch (SGB V)
- ZDF "Maybrit Illner": Sendung zur Klage der Krankenkassen (2024/2025)