Familienpolitik als Feigenblatt: Wenn Versprechungen nicht ankommen
Kinderbetreuung fehlt. Die Kosten steigen. Die Karriere wartet nicht auf Eltern. Für viele Familien in Deutschland ist das keine abstrakte Zukunftssorge, sondern bittere Realität. Familienpolitik darf kein Feigenblatt sein – sie muss echte Entlastung bringen, nicht nur Wahlkampfversprechen.
Die Betreuungslücke: Rechtsanspruch ohne Wirklichkeit
Wenn der Anspruch da ist, aber die Plätze fehlen
Seit 2013 haben Eltern in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab einem Jahr. Die Realität? Eine andere. 49,1 Prozent der Eltern von unter dreijährigen Kindern hatten 2022 Bedarf an einem Betreuungsplatz, die Betreuungsquote bei den unter Dreijährigen lag aber nur bei 35,5 Prozent. Das bedeutet: Mehr als jedes siebte Kind unter drei Jahren findet keinen Kitaplatz, obwohl ein Rechtsanspruch besteht.
Die Situation verschärft sich nach der Kita-Zeit erneut. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule soll ab 2026 eine Betreuungslücke schließen, die nach der Kita-Zeit für viele Familien entsteht, sobald die Kinder eingeschult werden. Doch bis dahin – und auch danach – klafft eine Lücke, die Familien tagtäglich spüren: Wenn die Schule mittags endet, aber der Arbeitstag nicht.
Die volkswirtschaftlichen Folgen
Die Auswirkungen sind massiv. Mathias Huebener vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erklärt: "Der Mangel an Kita-Plätzen hat enorme volkswirtschaftliche Auswirkungen, weil das Potenzial der Volkswirtschaft auf diese Weise nicht ausgeschöpft wird. Eltern können sich ihre Erwerbswünsche nicht erfüllen, Karrieren unterbleiben und speziell Frauen droht auch noch Altersarmut."
Tatsächlich sind vor allem Frauen betroffen, da in der Regel sie es sind, die zu Hause bleiben, wenn die Kinderbetreuung fehlt. Die Konsequenzen reichen weit über das Hier und Jetzt hinaus: Unterbrochene Erwerbsbiografien, Teilzeitfallen und schließlich Altersarmut.
Die Kostenlast: Ein Flickenteppich der Ungerechtigkeit
Extreme regionale Unterschiede
Ob Eltern für die Kinderbetreuung zahlen müssen – und wenn ja, wie viel – hängt nicht von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab, sondern vom Wohnort. In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sind die Kitas kostenfrei, in anderen Bundesländern zahlen Eltern dreistellige Beträge.
Die Spannbreite ist enorm: In Mülheim an der Ruhr zahlen Gutverdiener für eine wöchentliche Betreuungszeit von 45 Stunden 1.009 Euro, Bergisch Gladbach berechnet für 45 Stunden pro Woche einen Beitrag von 1.220 Euro. Zwölf Kilometer weiter kann die Situation völlig anders aussehen – nicht weil sich die Qualität der Betreuung unterscheidet, sondern weil jede Kommune ihre eigenen Regelungen trifft.
Komplexität statt Klarheit
Die Regelungen sind so komplex, dass Familien kaum durchblicken: In den hessischen Großstädten gibt es keine Staffelung des Einkommens, in Reutlingen keine Differenzierung nach Alter, dafür unterscheiden einige Städte in Niedersachsen auch noch nach Art der Betreuungseinrichtung. Hinzu kommt, dass kommunale Gebührenordnungen nicht überall für freie Träger gelten, die einen großen Teil des Betreuungsangebots stellen.
Das Ergebnis: Ein undurchschaubarer Flickenteppich, bei dem Familien je nach Wohnort, Einkommen, Alter des Kindes und Art der Einrichtung völlig unterschiedlich belastet werden. Wido Geis-Thöne vom Institut der deutschen Wirtschaft bringt es auf den Punkt: "Im Sinne einer Chancengleichheit wäre der Besuch von Kitas idealerweise bundesweit einheitlich geregelt und für alle Kinder in den letzten Jahren vor der Einschulung kostenlos."
Ungleiche Chancen: Wer arm ist, zahlt den höchsten Preis
Alleinerziehende: Die vergessene Gruppe
Besonders hart trifft die Situation Alleinerziehende. Fast 700.000 alleinerziehende Familien oder 41 Prozent gelten als einkommensarm – deutlich mehr als bei Paarfamilien, wo zwischen 8 Prozent (bei einem Kind) und 30 Prozent (bei drei und mehr Kindern) armutsgefährdet sind.
Das Paradoxe: 71 Prozent der alleinerziehenden Mütter und 87 Prozent der alleinerziehenden Väter gehen einer Arbeit nach. Die Armutsfalle für Alleinerziehende lässt sich also nicht auf mangelnde Erwerbstätigkeit zurückführen. Vielmehr sind es strukturelle Faktoren: niedrige Löhne, fehlende oder unzureichende Kinderbetreuung, ausfallende Unterhaltszahlungen und die Doppelbelastung aus Erwerbsarbeit und Care-Arbeit.
Alleinerziehende Mütter erbringen im Wochenschnitt über 15 Stunden mehr Care-Arbeit als alleinerziehende Väter. Diese unsichtbare Arbeit wird gesellschaftlich nicht anerkannt und finanziell nicht ausgeglichen. Stattdessen müssen 59 Prozent der alleinerziehenden Mütter mit einem persönlichen Nettoeinkommen unter 1.500 Euro auskommen, bei 52 Prozent sind es sogar weniger als 1.250 Euro.
Teilzeit als Falle
Viele Eltern – insbesondere Mütter – arbeiten in Teilzeit, um Beruf und Familie zu vereinbaren. Doch Teilzeit bedeutet in vielen Fällen: weniger Einkommen, schlechtere Aufstiegschancen, geringere Rentenansprüche. Die fehlende oder unflexible Kinderbetreuung zwingt Eltern in diese Situation – mit langfristigen Folgen für ihre wirtschaftliche Sicherheit.
Niedrige Löhne, fehlende Unterhaltszahlungen und die Nichtinanspruchnahme staatlicher Unterstützungsleistungen tragen zur Einkommensarmut bei. Die Einkommenssituation von Alleinerziehenden ist oft prekär, und der Weg aus der Armut bleibt trotz Erwerbstätigkeit schwierig.
Wohnungsnot verschärft die Situation
Die Probleme addieren sich: Eine Studie zur Mietkostenbelastung in den 77 deutschen Großstädten ergab, dass die Bruttomietkosten für Familien und Menschen mit wenig Einkommen zu teils extrem prekären Situationen führen. Am häufigsten sind davon Alleinerziehende, nämlich zu über einem Viertel (25,7 Prozent), betroffen. Nach Abzug der Wohnkosten bleibt ihnen zum Leben weniger übrig, als im Regelsatz von Grundsicherung vorgesehen.
Was Familien wirklich brauchen
Die aktuelle Familienpolitik krankt an drei fundamentalen Problemen:
Rechtsanspruch ohne Realität: Es nutzt nichts, wenn Eltern einen Rechtsanspruch auf Betreuung haben, aber keine Plätze finden. Was fehlt, ist eine konsequente Umsetzung: ausreichend Kitaplätze, ausreichend Personal, verlässliche Öffnungszeiten.
Kostenexplosion statt Entlastung: Familien müssen je nach Wohnort und Lebenssituation Hunderte Euro im Monat für Kinderbetreuung aufbringen – Geld, das an anderer Stelle fehlt. Der Flickenteppich verschiedener Regelungen schafft Ungerechtigkeit statt Chancengleichheit.
Strukturelle Benachteiligung: Alleinerziehende, Menschen in Teilzeit, Familien mit niedrigem Einkommen – sie alle zahlen einen unverhältnismäßig hohen Preis für die Defizite in der Familienpolitik. Ihre Lebensrealität findet in den politischen Sonntagsreden nicht statt.
Unsere Forderungen als Gerechtigkeitspartei – Team Todenhöfer
Wir sehen diese Missstände und benennen sie klar. Familien sind kein Thema für Wahlkämpfe. Familien sind das Rückgrat unserer Gesellschaft. Deshalb fordern wir:
Ein echter Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung: Nicht nur auf dem Papier, sondern in der Realität. Das bedeutet: ausreichend Plätze, qualifiziertes Personal, flexible und verlässliche Betreuungszeiten – von der Krippe bis zur Grundschule. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab 2026 ist ein Schritt, aber er muss auch tatsächlich umgesetzt werden – mit ausreichenden Investitionen in Personal und Infrastruktur.
Familienkosten, die keine Sorgen bereiten: Kinderbetreuung muss bundesweit einheitlich und beitragsfrei sein – zumindest für die letzten Jahre vor der Einschulung. Der derzeitige Flickenteppich schafft Ungerechtigkeit und belastet gerade die Familien, die ohnehin wenig haben. Die steuerliche Entlastung für kleine und mittlere Einkommen, für die wir uns einsetzen, muss Familien spürbar zugutekommen.
Chancengleichheit für alle Eltern: Alleinerziehende, Menschen in Teilzeit, Familien mit niedrigem Einkommen – sie alle verdienen gleiche Chancen. Das bedeutet: bessere finanzielle Absicherung, konsequente Durchsetzung von Unterhaltszahlungen, flexible Arbeitszeitmodelle und eine Anerkennung der Care-Arbeit, die sie leisten. Es darf keine privilegierten Gruppen geben – und keine zweite Klasse.
Wir stehen für eine Politik, die Familien wirklich entlastet – nicht mit Worten, sondern mit Taten. Eine Politik, die anerkennt, dass Kinderbetreuung keine Privatsache ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Eine Politik, die Generationengerechtigkeit nicht nur predigt, sondern praktiziert – indem sie jungen Eltern echte Perspektiven bietet statt leerer Versprechungen.
Fazit: Familien ernst nehmen
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Fast jedes siebte Kind unter drei Jahren findet keinen Kitaplatz. Alleinerziehende sind zu 41 Prozent armutsgefährdet. Eltern zahlen je nach Wohnort zwischen null und über 1.200 Euro für dieselbe Leistung. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder steht erst ab 2026 in Aussicht – und selbst dann ist unklar, ob genug Plätze da sein werden.
Das ist keine Familienpolitik. Das ist ein Flickenteppich aus Halbherzigkeiten, regionalen Unterschieden und struktureller Benachteiligung. Familien verdienen mehr. Sie verdienen Verlässlichkeit, Gerechtigkeit und echte Unterstützung.
Denn am Ende geht es nicht um Statistiken oder Wahlkampfversprechen. Es geht um Menschen: Um Eltern, die arbeiten wollen, aber keine Betreuung finden. Um Kinder, die Förderung brauchen, aber keinen Platz bekommen. Um Alleinerziehende, die trotz Arbeit in Armut leben. Sie alle haben ein Recht darauf, dass Politik ihre Realität wahrnimmt – und handelt.
Quellen
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2021): Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab 2026 beschlossen. https://www.bmbfsfj.bund.de/bmbfsfj/aktuelles/alle-meldungen/rechtsanspruch-auf-ganztagsbetreuung-ab-2026-beschlossen-178826
- News4teachers (2023): Was bringt der Rechtsanspruch auf Kita-Betreuung, wenn es an Plätzen fehlt? https://www.news4teachers.de/2023/07/was-bringt-ein-rechtsanspruch-auf-kita-betreuung-wenn-es-nicht-genug-plaetze-gibt/
- NZZ (2022): Bildungskrise in Deutschland: Es fehlen Kitaplätze und Erzieher. https://www.nzz.ch/international/bildungskrise-in-deutschland-es-fehlen-kitaplaetze-und-erzieher-ld.1671123
- Institut der deutschen Wirtschaft (2024): Elternbeiträge: Wo Kitas am teuersten sind. Pressemitteilung vom 24. Februar 2024. https://www.iwkoeln.de/presse/pressemitteilungen/wido-geis-thoene-wo-kitas-am-teuersten-sind.html
- Institut der deutschen Wirtschaft (2024): Kitagebühren: Wo Eltern wie viel zahlen müssen. https://www.iwd.de/artikel/kitagebuehren-wo-eltern-wie-viel-zahlen-muessen-614193/
- Geis-Thöne, Wido (2024): Elternbeiträge für die Kitabetreuung im regionalen Vergleich. IW-Report Nr. 13. https://www.iwkoeln.de/studien/wido-geis-thoene-elternbeitraege-fuer-die-kitabetreuung-im-regionalen-vergleich.html
- Bertelsmann Stiftung (2024): Studie - Trotz Arbeit haben Alleinerziehende noch immer das höchste Armutsrisiko. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2024/juni/trotz-arbeit-haben-alleinerziehende-noch-immer-das-hoechste-armutsrisiko
- Bertelsmann Stiftung (2024): Alleinerziehende in Deutschland. Factsheet. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/alleinerziehende-factsheet-2024
- Arbeitnehmerkammer Bremen: Alleinerziehende: Armut und Benachteiligung bleiben drängende Probleme. https://www.arbeitnehmerkammer.de/service/kommunikation-und-medien/pressemitteilungen/alleinerziehende-studie.html
- BAG kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen: Armutsgefährdung von Alleinerziehenden. https://www.gleichberechtigt.org/armut/armutsgef%C3%A4hrdung-von-alleinerziehenden
- Stiftung Alltagsheld:innen: Zahlen, Daten, Fakten. https://alltagsheldinnen.org/zahlen-daten-fakten/
- Diakonie Deutschland: Armut und Geschlecht. https://www.diakonie.de/informieren/infothek/2021/dezember/armut-und-geschlecht